Luaverde-Porträt
Die
Brasileira
Geliebte der Bohemiens
Im
21. Jahrhundert sind sie selten geworden, die luxuriösen
Kaffeehäuser des vergangenen Jahrhunderts. Wer hat noch Zeit
zum Verweilen, Zuhören, Betrachten?
Und doch gibt es sie noch: die großen alten Cafés
mit ihren geräumigen Bäuchen, die von den hektischen
Flaniermeilen wegführen ins Innere, in die Ruhe und Geborgenheit
von Orten, die zeitlos sind, verlässlich, fast so wie ein
guter Freund, zu dem man immer gehen kann - wenn man glücklich
ist, wenn man Kummer hat..
Solch ein Ort ist A Brasileira im Herzen Lissabons, das
am 19. November 2005, seinen 100. Geburtstag feierte. Auch wenn
die Gäste heute mit dem Handy in der Hand vor ihrem Kaffee
sitzen und die Reisenden das Interieur mit Digital- und Videokameras
für die Ewigkeit festzuhalten suchen, dieses altehrwürdige
Café trotzt standhaft dem Zeitgeist. Und wird gerade dafür
geliebt. Vor hundert Jahren war es ganz anders: da wurde es zum
Flaggschiff der Moderne und brachte Stil und Eleganz der Cafés
von Wien und Paris an den Atlantik. In Lissabon, Porto und Faro
wurde das Café zum öffentlichen Wohnzimmer, das einlud,
hier die Zeit verrinnen zu lassen bei Milchkaffee und Sahnetörtchen,
beim Lesen von Zeitungen und Büchern, beim Schreiben und
Debattieren, im Dunst von Zigarren und Zigarillos.
Das
beginnende 20. Jahrhundert war die Blütezeit der Kaffeehäuser.
Heute
ist die Brasileira - einst hieß sie Casa Brasileira - in
Lissabon das letzte Kaffeehaus seiner Art. Das "Versailles"
gibt es zwar auch noch, das "Bénard" gleich nebenan
und das "Nicola" im Stil des Art Deco am Rossio, aber
nur in den Spiegeln der Brasileira reflektiert sich die Geschichte
eines ganzen Jahrhunderts. Als das Café 1905 von Adriano
Telles gegründet wurde, war Portugal noch Monarchie und die
Brasileira nicht viel mehr als eine Kaffeerösterei mit Verkauf,
die außer brasilianischem Kaffee auch Tee, Mehl, Chilischoten,
Tapioka und Guavengelee im Sortiment hatte. Da der brasilianische
Kaffee die feinen Damen zunächst nicht überzeugte, überlegte
Telles, wie er ihnen sein Produkt versüßen könne
und kam auf die Idee: jeder, der ein Päckchen Kaffee in der
Brasileira kaufte, bekam einen Espresso umsonst und ein Bulletin
des Hauses gratis dazu. Insgesamt wurden nicht weniger als 40
Nummern der Hauspostille produziert.
1908 wurde aus der Kaffeerösterei das Café A Brasileira,
"mit einer modernen Ausstattung der Bequemlichkeit und Eleganz,
für jene Kunden, die unser Angebot des Gratis-Kaffee nicht
nutzen möchten. Hier finden sie optimale Bedingungen, um
sich komfortabel auszuruhen", heißt es in eigener Sache.
Und zugleich wird versichert, dass es für die Kaffeekäufer
natürlich weiterhin die bica, wie der Espresso in
Lissabon auch heißt, umsonst geben werde. Tradition und
Innovation als Erfolgsrezept. Es
ging auf.
Portugals berühmteste Maler und
Literaten trafen sich in der Brasileira. "Von
der Buchhandlung verlagerten sich die literarischen und politischen
Stammtische in die Cafés. Man brauchte ja nur über
die Straße zu gehen, und dann war man schon in der Brasileira,
Tisch an Tisch mit den Meistern der Künste und den kulturellen
Bohemiens," schrieb der Schriftsteller José Cardoso
Pires im "Lissabonner Logbuch", seiner literarischen
Liebeserklärung an die Stadt am Tejo. Für Fernando Pessoa,
der eine ganze Reihe von Stammcafés und Stammkneipen hatte,
war es das Café, in das er meist sonntags zu gehen pflegte.
Von Anfang an hangen in der Brasileira Bilder. Als es 1923 von
dem Architekten Norte Júnior mit verspiegelten Wänden
und einem noch eleganteren Interieur ausgestattet wurde, schlug
der Journalist Norberto de Araújo vor, die mittelmäßigen
Bilder durch Kunstwerke der portugiesischen Avantgarde zu ersetzen.
So kamen Bilder von modernen Malern wie José Almada de
Negreiros ins Café. Heute hängen sie in den Museen
Lissabons.
Könnten die Espressotassen sprechen, könnten die Spiegel
erzählen, was sie gesehen haben, oder die Marmortische, was
auf ihnen zu Papier gebracht wurde, sie wüssten von politischen
Verschwörungen, Liebesromanzen, Utopien und Träumen
zu berichten. Die Brasileira hat allen Stürmen getrotzt,
die Portugal, Lissabon und den Chiado, das kleine Viertel, in
dem das Café liegt, erfassten. Es hat alles erlebt und
überlebt: den Aufbruch der Republik 1910, die Repression
der 48 Jahre Diktatur, zwei Weltkriege, Wirtschaftskrisen, Kolonialkriege,
das Sterben der Lissabonner Traditionscafés und den Brand
im Chiado im August 1988, dessen Flammen die Brasileira verschonten.
Der
Chiado ist das pulsierende Herz Lissabons, einer der ältesten
Teile der Stadt und seit dem Ende des 19. Jahrhunderts die Bühne,
auf der alle großen Akteure auftreten, und die kleineren
und Möchtegern-Akteure natürlich auch.
Die Brasileira ist eine kleine Bühne innerhalb dieser großen
Bühne. Wer heute auf der Terrasse vor dem Café sitzt,
hat einen Logenplatz.
Doch die Zeit der großen Inszenierungen ist vorbei. Die
Zeit der Nelkenrevolution zum Beispiel, als sich am 25. April
1974 einen Katzensprung vom Brasileira entfernt auf dem Largo
do Carmo die Zukunft der Nation entschied. Und Ministerpräsident
Marcello Caetano kapitulierte, ermüdet und überwältigt
vom Druck der Revolutionsbewegung, die das Volk mitriss in einer
Woge der Sehnsucht, aus diesem verstaubten Gefängnis am Rande
Europas auszubrechen.
Am 26. April 1974 lud José Cardoso Pires den damaligen
Leiter des Goethe-Institutes in Lissabon, Curt Meyer-Clason, ein,
gemeinsam mit anderen Literaten einen der düstersten Orte
der Diktatur zu besichtigen: die Zentrale des Staatssicherheitsdienstes
Pide, wo die Verhöre und Folterungen stattfanden. Treffpunkt
war die nahegelegene Brasileira. Eine neue Zeit, auch hier: man
konnte wieder laut und ohne Angst sagen, was man dachte. Eine
heute 50 Jahre alte Portugiesin erinnert sich an die Zeit der
Diktatur, während wir an einem dieser Novembertage zusammen
an einem der Marmortischchen eine bica trinken: "Hier
saßen wir, ich als ganz junge Studentin, und meine Freunde,
und sprachen über Freiheit, über verbotene Dinge, während
vor dem Eingang ein Polizist auf und ab marschierte." Sie
senkt dabei die Stimme und blickt sich um, als könnten die
Gespenster der Vergangenheit gerade noch einmal auftauchen.
Die
Lissabonner sind stolz auf ihr Café und bleiben ihm treu.
Sie teilen es mit zahllosen Touristen, in ihrer meist geduldigen
und höflichen Art. Die Touristen kommen und gehen,
die Stammgäste bleiben und bilden das lebende Inventar der
Brasileira, ebenso wie die Angestellten, die seit Jahren hier
arbeiten. Als die Brasileira ihren hundersten Geburtstag feierte,
besann man sich einer Tradition: das Café spendierte allen
Besuchern einen Espresso, den besten, wie es im Werbeslogan: "O
melhor café é o da Brasileira" heißt.
Er ist es, aber nicht nur, weil er aromatisch-kräftig schmeckt,
sondern auch, weil dieser Ort mit seiner Atmosphäre und Noblesse
ihn dazu macht. Dieses Café wird auch in hundert Jahren
noch bestehen, dann aber als Fossil einer untergegangenen Epoche,
an die sich niemand mehr erinnern kann.
Bilder
und Text: © Simone Klein